„Seit fast 900 Jahren stehe ich nun in diesem Forst in Sirksfeld. Ich habe viel im Leben gesehen. Die meisten meiner Nachbarn und Freunde wurden gefällt, ich musste von vielen Bäumen Abschied nehmen. Mein Holz ist sehr fest und stabil, weshalb viele meiner Artgenossen für den Schiffsbau draufgingen. Außerdem eignen wir uns hervorragend für Gebäude, weil unser Holz gut zu verarbeiten ist… und für Papier. Ich allerdings hatte Glück, denn unter mir wurden damals Gericht abgehalten, weil meine Blätter so grün waren und mein Stamm so dick und schön verzweigt. Mich ließ der Mensch am Leben und doch musste ich viel Leid ansehen.
Im Jahre 1803, also vor etwa 200 Jahren, gab es hier unter der Führung des französischen Feldherrn Napoleon einen großen Krieg. Er enteignete die linksrheinischen Adeligen, die in den Wäldern auch im Münsterland entschädigt wurden. Deswegen stehe ich heute auch in einem Privatwald. Diese Wälder sind dennoch für alle zugänglich.
Der Begriff Nachhaltigkeit stammt aus der Forstwirtschaft
Irgendwann war ich fast die einzige Eiche in diesem Forst, bis vor etwa 50 Jahren die Menschen rebellierten und merkten, dass der Wald verschwindet, weil entgegen des Prinzips der Nachhaltigkeit mehr entnommen als wieder neu gepflanzt wurde. Schon im 18. Jahrhundert hat sich das Verhältnis zum Wald durch die Forderung eines gewissen Georg Ludwig Hartwig geändert, der postulierte, dass der Wald zu schützen sei. Auch das Buch Sylvicultura oeconomica von Hans Carl von Carlowitz hat zu einer nachhaltigeren Forstwirtschaft beigetragen. Nicht nur, weil das Holz gebraucht wird, sondern auch, weil die Menschen im Wald gerne spazieren gehen und die Natur beobachten wollen. Der durch die Forstwirtschaft geprägte Begriff der Nachhaltigkeit wurde nun groß geschrieben.
Seit dieser Zeit wurde deswegen wieder aufgeforstet, also viele neue Bäume gepflanzt, so dass jetzt 60% des deutschen Waldes aus Laubbäumen wie Eichen, Buchen, Birken, Ahorn oder auch Linden bestehen. 40% dagegen sind Nadelbäume, wovon wiederum fast die Hälfte Fichten sind, weil diese leicht zu pflanzen sind und sehr schnell wachsen. Außerdem ist ihr Stamm gerade, also perfekt für Gebäude und Schiffe geeignet. Durch ihr weiches Holz können sie zudem prima bearbeitet werden. Ich selber stehe nicht in einem der zahlreichen Nationalparks, sondern in einem Forst, der im Gegensatz zum Wald für wirtschaftliche und monetäre Zwecke genutzt werden könnte.
Katastrophen über Katastrophen
Eigentlich könnte es mir ganz gut gehen, denn das letzte halbe Jahrhundert war eine Zeit des Friedens. Doch das, was sich seit den letzten 30 Jahren ereignet, habe ich noch nicht erlebt und übertrifft alles, was ich je erfahren musste. Meine schlimmsten Befürchtungen bewahrheiten sich.
Jedes Jahr wird es heißer und heißer und die Wetterextreme nehmen ständig zu. Viele meiner Freunde sind in den letzten Jahren drei großen Katastrophen zum Opfer gefallen. Aber auch Bäume in anderen Teilen der Welt mussten ihr Leben lassen, unter anderem durch Waldbrände. Hier in meiner Umgebung gab es zuerst einen großen Schneebruchschaden, weil viele Baumkronen durch sehr viel Nassschnee gebrochen wurden. Dann gab es einen gewaltigen Sturm, Kyrill, der viele Bäume entwurzelt hat. 2018 gab es schließlich einen weiteren Sturm, das Orkantief Friederike, der in meinem Wald eine 200 Meter breite Schneise der Verwüstung gezogen und eine Ödnis voll Tod hinterlassen hat. Aber nicht nur diese drei Katastrophen haben meinem Wald arg zugesetzt, auch die Veränderung des Klimas allgemein verändert die Struktur meiner Nachbarn. So ist der Jetstream, ein Wind in 10 km Höhe mit einer Geschwindigkeit von ca. 200 km/h und Teil der Klimaanlage der Erde, langsamer geworden und bringt wärmere statt kältere Luft. Dadurch regnet es weniger und der Boden ist zu trocken. Bis zu zwei Meter tief reicht schon die Dürre. Meine Wurzeln sind glücklicherweise schon so tief und fest, dass ich noch ausreichend Wasser bekomme. Doch viele Bäume können nicht mehr genug Flüssigkeit aufsaugen, obwohl der Meeresspiegel vor 10 000 Jahren noch um 80 Meter tiefer war, weil das Wasser im Eis gebunden war.
Da drüben stand ewig ein wechselfeuchter Erlenbruch. Das bedeutet, dass der Wasserstand sich ständig änderte und die Erlen auf diesem Gebiet angepasst waren. Jetzt ist das Feuchtgebiet trocken und die Erlen sind dem Untergang geweiht. Außerdem merke ich an meiner Fotosynthese, dass es immer mehr Kohlenstoffdioxid in der Atmosphäre gibt, so dass das Atmen anstrengend wird. Der Gehalt des CO2 stieg in den letzten Jahren derart drastisch wie seit Millionen von Jahren nicht mehr. Schuld daran ist der Mensch, der alles weg pustet was sich bewegt. Nicht nur Holz wird verbrannt, im Gegenteil! Der Wald ist in den letzten Jahren ja stetig gewachsen. Nein, es wird verbrannt, was nicht mehr nachwächst: Öl, Gas, Kohle. Dadurch entwickelt sich die Erde zu einem Treibhaus, weil die durch Verbrennung entstehenden Wolken nicht regnen, sondern wie eine Glaskuppel wirken.
Die verheerenden Folgen des Fichtenanbaus
Ein großer Fehler der Menschen war die Ansiedlung von Fichten. Meine Freunde sind zwar sehr hilfreich, aber als Monokultur sind sie anfällig für Krankheiten. Außerdem sind sie eigentlich nicht für ein warmes Klima gemacht, sondern für Temperaturen bis zu 15 Grad. Der deutsche Wald entstand nämlich eigentlich nach der Eiszeit und bildete sich unabhängig von den südlichen Wäldern, weil die Gebirgszüge der Alpen eine Art Grenze darstellten und die Ausbreitung der Wälder und das Klima beeinflussten. Die warmen, südlichen Winde wurden abgefangen. Jetzt aber helfen die Alpen gegen die Wärme auch nichts mehr. Die Fichten bekommen kein Wasser mehr, woraufhin sie austrocknen und den idealen Nährboden für den Borkenkäfer liefern. Durch die dicht gedrängte Ansiedlung der Fichten nebeneinander hat der Borkenkäfer leichtes Spiel, alle Fichten gleichzeitig zu befallen, so dass 20% der deutschen Fichten platt gemacht wurden. Aber auch Buchen halten nicht mehr lange durch, ebenso wenig die Kiefern. Ich, die Eiche, halte noch stand, merke aber, dass ich die Hitze auch nicht mehr lange aushalten werde und jetzt schon anfange, meine Blätter abzuwerfen, um die Verdunstung zu stoppen.
Ein Hoffnungsschimmer?
Manche Förster haben leider resigniert und lassen uns sterben. Einige andere denken, dass einfach eine andere Monokultur aus dem Süden angebaut werden muss. Die Förster jedoch, die den Kampf nicht aufgeben und die Zusammenhänge sehen, versuchen, südlichere Bäume zu pflanzen, die der Hitze für die nächsten Jahrtausende gewachsen sind. In meiner Nachbarschaft sind durch solch einen Förster vielen neue Bäume gepflanzt worden, die aus den südlichen Gefilden kommen. Mein neuer Freund, ein Mammutbaum aus Kalifornien, verträgt die Hitze gut. Auch türkische oder spanische und italienische Bäume sind besser an die Hitze angepasst. Da die Biodiversität extrem wichtig ist, um den Schädlingen und Krankheiten keinen großen Nährboden zu bieten, werden in meiner Nachbarschaft 15 bis 20 verschiedene Arten angebaut, um zu experimentieren, wie sie sich halten. Dort drüben sehen wir aber schon 70 Jahre alte Bäume aus südlichen Regionen, die sich hervorragend an die schwüle Wärme angepasst haben.
Ich habe bei einer Forstbesichtigung zufällig mitgehört, dass in den nächsten 50 Jahren das Klima bei uns im Münsterland vergleichbar ist mit den Wetterbedingungen von Madrid heute, also 40 bis 50 Grad keine Seltenheit sein werden. Dementsprechend ist es eine gute Idee, für dortige Verhältnisse angepasste Bäume zu pflanzen, auch wenn ich es schade finde, dass die Bäume aus deutschen Landen sterben werden. Es ist jedoch kontraproduktiv, auf diese zu setzen, denn wir müssen jetzt versuchen, dass CO2 durch Bäume über einen sehr langen Zeitraum zu binden, und das geht nur mit südlichen Baumarten.
Was ist zu tun?
Ich frage mich jedoch, was mit Bäumen geschieht, die für medizinische Zwecke gebraucht werden. Die Rinde der Birke enthält Salicin, also Aspirin. Wahrscheinlich wird es kleine Gebiete geben, in denen diese Baumart angepflanzt werden wird. Zur Not müssen Gewächshäuser mit kühlerem Klima gebaut werden. Auch eine Sammelstelle für alle Samenarten meiner Baumfreunde gibt es schon, um das komplette Aussterben wenigstens ein bisschen hinauszuzögern.
Hilfreich wäre zudem eine Steuer auf CO2, in die die Menschen einzahlen müssen, wenn sie Bäume fällen und für wirtschaftliche Zwecke gebrauchen. Dieses Geld müsste anderen Nationen, welche den Schutz der Wälder betreiben, zugute kommen. So könnte beispielsweise verhindert werden, dass Brasilien, das einen Krieg gegen meine Art führt und sich zum Ziel gesetzt hat, den tropischen Regenwald in den nächsten 20 Jahren komplett zu zerstören, seinen Plan in die Tat umsetzt. Bekäme Brasilien Geld für die Protektion, würde sich die Vernichtung nicht lohnen.
Die Frage ist nur, ob meine neuen Nachbarn nicht nur dem Klima gewachsen sind, sondern auch den hiesigen, im Süden nicht vorkommenden Krankheiten und Insektenarten. Dies wird sich im Laufe der nächsten Jahrzehnte zeigen. Ich selbst weiß auch nicht, ob ich die nächsten Jahrzehnte überleben werde, denn auch viele Eichen mussten schon gehen. Zum Glück liegt in der Nähe meines Standorts ein Begräbniswald. Die Menschen, die dort ihre letzte Ruhe finden, gehen mir voraus, doch letztendlich lande ich genauso unter der Erde, denn der Tod ist in den Wäldern allgegenwärtig.“
Der Baum ist frei erfunden, die Fakten jedoch stimmen. Die Informationen erfuhr die Initiative vom Förster Jochen Bömer aus Sirksfeld, der gegenwärtig Waldumbauprojekte leitet, um bis 2100 einen Mischwald zu erzielen.
von Manuel Hartmann